“As soon as an Analytical Engine exists, it will necessarily guide the future course of the science” – Charles Babbage
Autor: Walter Matthias Kunze
In den boomenden 1950er Jahren, als ein damals so genanntes “Elektronengehirn” mit der Kapazität eines Taschenrechners eher einen kleinen Wohnraum einnahm, sah die Welt noch richtig gemütlich aus. Aber sogar das war pure Science Fiction – verglichen mit dem ersten Steampunk-Computer – wenn es ihn denn gegeben hätte. Was aber wäre gewesen, wenn der Realität geworden wäre?
Von Netbooks über Smartphones bis hin zu Wearables und Augmented Reality–- Computer werden immer kleiner, Interfaces und Gadgets verschwinden in unserer Umwelt. Das alles nimmt immer mehr die Züge real gewordener Science Fiction Welten an.
Wieviel futuristischer wäre unsere digitalisierte Welt, wenn die britische Regierung im Jahr 1842 nicht den fatalen Fehler begangen hätte, ihre finanzielle Unterstützung für den ersten Computer des Dampfmaschinenzeitalters – die „Difference Engine No.1“ – einzustellen?
Zwar war es der Astronom und Mathematiker Wilhelm Schickard aus Tübingen, der im Jahr 1623 eine erste Maschine konstruierte, die astronomische Berechnungen erleichterte. Zudem hatte Schickard sogar einige berühmte Nachfolger, darunter Blaise Pascal und Gottfried Wilhelm Leibniz… Aber dennoch: Dieses hochtechnologische Wissen geriet wieder in Vergessenheit.
Zwar entwickelte man im 18. Jahrhundert Lochkarten und damit die erste Datenspeicherung, die die mechanischen Webstühle nebst Industrieller Revolution und ihrer gesellschaftlich-politischen Auswirkungen ermöglichte. Doch erst 1832 trat ein gewisser Charles Babbage (1791 bis 1871) aus England auf den Plan, der mit der Unterstützung seiner Mitarbeiterin Lady Ada Lovelace den ersten nennenswerten Computer der Welt realisierte (wenn wir mal Dänikens UFO-Erkenntnisse, ägyptische Pyramiden-Leuchtkörper mit Elektrizität aus antiken Amphoren-Batterien und andere Dinge beiseite lassen) – dessen Vorläufer besagte„“Difference Engine No.1“ war. Das erklärte Ziel des Herrn Babbage: Exaktere mathematische Tabellen für die Schiffahrtsnavigation. Babbage forschte also aus heutiger Sicht einfach nur nach einem guten „Taschenrechner“.
Das Faszinierende daran: Mister Babbage stand keine Elektrizität zur Verfügung, um beispielsweise Relais zu bauen oder elektronische Datenströme zu erzeugen. Er konstruierte seinen Computer-Vorläufer nach den feinmechanischen Prinzipien der Uhrmacherkunst und gab ihn dementsprechend bei dem Feinmechanik-Spezialisten Joseph Clement in Auftrag. Dieser “Taschenrechner für die Seefahrt”“wurde ein recht teures Werkstück, und diese damalige Hochtechnologie erhielt daher die volle finanzielle Unterstützung des britischen Staates.
Das Ganze wäre sehr vielversprechend gewesen, hätte die britische Regierung nicht ihre Unterstützung im Jahr 1842 beendet.
Unser Visionär Charles Babbage hatte das Potential seiner Rechenmaschine jedoch in voller Konsequenz erkannt. So begann er die planerische Konstruktion des Nachfolgemodells: Die „Analytical Engine“, die dann der erste voll variabel programmierbare Computer werden sollte.
Und da Herr Babbage nicht nur ein sehr begabter, sondern auch ein politisch engagierter und zudem ziemlich hartnäckiger (man könnte auch sagen, teilweise etwas verbohrter) Zeitgenosse war, entschloss er sich dazu, auch ohne die Unterstützung der Regierung weiter zu machen (er hatte glücklicherweise geeerbt).
Doch leider blieb es vor allem bei theoretischen Ergebnissen: Die Komplexität und Feinheit des Steampunk-Computers namens „Analytical Engine“ sowie auch der einfacheren parallel entstehenden „Difference Engine No.2““ (Konzeption 1847 bis etwa 1849) erforderte mehr finanzielle Mittel, als Babbage zur Verfügung standen. Im Jahr 1846 schloss der Erfinder offiziell seine Forschungsarbeiten ab und stellte, wie sein Sohn berichtete, nur einen Teil der „Analytical Engine“ fertig, mit dem man schon einmal die Zahl „pi“ mehrstellig ausrechnen konnte. Immerhin!
Der erste Dampf-Computer…
Hätte Babbage seine „Analytical Engine“ jedoch fertig gestellt, so wäre sie in der Tat ein erster richtiger Computer geworden! Ein Computer mit Schaltkreisen aus Zahnrädern und Hebeln, angetrieben durch eine Dampfmaschine. Ein Steampunk-Computer, der sich mit Hilfe von Lochkarten programmieren und steuern ließ – ja, der sogar einen festen Speicher mit einer Größe von zirka
20,7 KiloByte hatte. Die Analyse-Ergebnisse konnte man über einen Drucker und zusätzlich einen Kurvenplotter ausgeben. Denn Babbage hatte mal eben nebenbei auch diese beiden Geräte erfunden. Man konnte auch Zahlen speichern, in dem man Löcher in Speicher-Karten aus Metall stanzte.
Steampunk-Code Assembler 0.1?
Und auch die Programmiersprache, die Charles Babbage und seiner Mitarbeiterin Ada Lovelace erarbeitet hatten, war schon recht weit entwickelt und ähnelte der heutigen Assembler-Sprache. Der Ur-PC des Steampunk hätte eine Rechengenauigkeit erzielt, den seine elektronischen Nachfahren erst wieder um 1960 erreichten. Kein Wunder also, dass Babbages und Lovelaces Erkenntnisse die Pioniere der ersten uns als Computer bekannten Geräte beeinflussten – darunter nicht nur die Forschungen Konrad Zuses, sondern vor allem auch die von Howard Hathaway Aiken, dem Konstrukteur der von 1943 bis 44 erbauten elektromechanischen Relais-Rechenmaschine Mark I.
Was also, hätte damals das Komitee der “British Association for the Advancement of Science“ nicht davon abgeraten, die „Analytical Engine““zu bauen? Was, wenn der Staat stattdessen investiert hätte – ganz im Sinne von „Rule Britannia“ aus der inoffiziellen Nationalhymne des Königreiches? Sähe unsere Welt heute anders aus? Wäre der erste Webserver nicht so groß wie eine Wohnung, sondern wie ein Haus gewesen? Wäre Großbritannien globale IT-Macht Nummer eins geworden – und damit der globale wirtschaftliche und politische Alleinherrscher?
Branchentrends einer vergangenen Zukunft
Programmierer wären Lochkarten-Handarbeiter gewesen, Interactive Designer dann Lochkarten-Gestalter. Vielleicht hätte das britische Königreich längst schon den digitalen, gelochten Pass eingeführt. Mit Sicherheit aber hätten die Verwaltungsbehörden bald mittels Computern gearbeitet, was ganz sicher auch die ersten Hacker und Cracker auf den Plan gerufen hätte, die dann natürlich „Locher“ genannt werden würden. Die IT-Revolution hätte gleichzeitig mit der damaligen Industriellen Revolution begonnen und damit nicht nur die soziale Bewegung für Arbeitnehmerrechte, sondern auch vielleicht ein erstes Engagement für den Schutz der persönlichen Daten provoziert. Derart viele disruptive Technologien auf einmal hätten einen Quantensprung im britischen und später im globalen Fortschritt erzeugt.
Denn auch die OpenSource-Bewegung hätte, soziologisch bedingt, nicht lange auf sich warten lassen. Bald hätten die Menschen Miniatur-Lochstreifen getauscht, die nicht nur Webmuster, sondern auch Literatur oder Musik enthielten (1904 entwickelte die Freiburger Firma Welte tatsächlich ein mechanisches Verfahren, das Klavierspiel auf Lochkarten speicherte – allerdings mussten sich die Leute damals über Musik-Raubkopien kaum Gedanken machen, weil das Welte-Mignon-Piano, also der damalige Lochkarten-MP3-Player, ein absolutes Luxus-Gadget war).
Selbst der Flug in den „außerirdischen Weltenraum“, zu anderen „Planeten-Wesen“ wäre schon viel früher möglich gewesen für die Dampf-IT‘ler des Erdballs! Schon Science-Fiction-Pionier Jules Verne machte sich Gedanken über den Raketenflug zum Mond, Herbert George Wells hatte bereits den Mars als feindliche Gegen-Erde erkannt. Hätte ihnen also die entsprechende IT zur Verfügung gestanden, sie hätten die Frage, ob die Rakete lieber von der britischen Startbasis aus oder über den Bordcomputer per Lochkarten gesteuert werden soll, sicherlich auch noch gelöst.
Auch die Kommunikation per Netz hätte sich viel schneller entwickelt, die Steampunk-IT hätte sich schließlich wenig von den Prinzipien unserer heutigen mikro-elektronischen IT unterscheiden dürfen. Vielleicht noch zu diskutieren wäre natürlich die Geschwindigkeit der Datenübermitllung. Doch fest steht, dass Babbages Computer-Kommunikationsprinzipien anfangs in Konkurrenz, dann ergänzend zur damals intensiv genutzten Rohrpost gestanden hätten – bevor letztere auf Dauer wohl verschwunden wäre, weil mechanisch-digital übermittelte Daten einfach von Vorteil gewesen wären. Eine landesweite, mechanische Verkabelung mit Miniatur-Mechanik und -Getriebestangen wäre gegenüber der Rohrpost einfach die bessere Technik gewesen. Und nach den erfolgreichen Experimenten des Hamburgers Heinrich Hertz hätte auch sich auch die Technologie der funkgesteuerten Datenübermittlung von Funkstation zu Drucker oder zu Mikrogetriebe-Vermittlung zu Funkstation sehr bald weiter entwickelt.
Wahrscheinlich ist aber auch, dass das britische IT-Empire versucht hätte, diese Weiterentwicklung aufzuhalten: Mögliche offizielle Babbage-Forschungsinstitute wären nämlich (seit der Planung und Konstruktion) politisch und staatlich unterstützt worden, man hätte sie wohl auch halbstaatlich nennen können. Babbages Prinzip der „Analytical Engine““wäre protegiert worden – natürlich gegen Spionage, aber auch gegen jeglichen Wettbewerb. Denn schließlich hätte die Regierung so einiges an Geldern investiert.
Das Monopol der Babbage-Institute
An alternativen Technologien wäre in diesem Fall das Interesse eher gering gewesen. Und das obwohl die dampfgetriebene Lochstreifen-Technologie wohl bald an ihre Grenzen gestoßen wäre: Selbst bei schnellen Fortschritten in der Miniaturisierung der Rechenmechanik die kleinere und kompaktere Rechner ermöglicht hätten, wäre die Frage geblieben, wie man die Produktion solch kleiner Geräte hätte durchführen wollen? Durch automatische und hochfein arbeitende Roboterfabriken? Oder gar durch Nano-Rechenmaschinen? Vielleicht hätte man die Zahnrad-Schaltkreise durch bessere Fertigungstechniken und möglicherweise bereits existierende, hochwertige Kunststoffe („Bakelit 2.0?“) oder spezielle Metallegierungen noch weiter miniaturisieren können. Computer hätten damit aber heute sicherlich nicht die Größe eines 2009er Büro-PCs – auch wenn man vielleicht nahe dran gekommen wäre.
Sicher wäre aber auch geschehen, was die Briten im benannten Beispiel-Szenario am meisten gefürchtet hätten: OpenSource-Forscher weltweit (oder meinetwegen auch Wettbewerber um Aufträge von der Industrie und ausländischen Regierungen) wären unserem Mister Babbage und seinen englischen Mitstreitern zuvor gekommen. Womöglich beschnleunigt durch internationale Geheimdienste hätten sie die damals aufkommenden Technologien für ihre Zwecke zu nutzen gewusst. Elektrizität war damals ja bereits bekannt, ein elektrizitätsbasiertes Rechner-System war also nur eine Frage der Zeit, genauso wie die damit verbundene Entwicklung von Mikroschaltern, die durch Strom gesteuert werden – wir kennen sie als Relais. Möglicherweise hätte man diese Relais-Computer zuerst noch mit Elektro-Generatoren gesteuert, die von Dampfmaschinen angetriebenen wurden. Aber mit Sicherheit hätte man die Entwicklung der Relais-PCs nicht für immer stoppen können. Denn Babbages Technologie hätte ja gerade die Feinmechanik und Entwicklung eines schnellen Kommunikationsnetzes begünstigt und damit die Erfindung dieser Alternativen.
Es sieht also so aus, als hätte das Schicksal die Verabredung der Menschheit mit ihrer elektronischen Zukunft zwingend vorbereitet. Der Weg vom feinmechanischen Computer zum Relaisrechner wäre vielleicht beschleunigt, vielleicht wäre er verzögert worden, hätte Great Britain Charles Babbages Erfindung nur zu würdigen gewusst. Die Geschichte der digitalen Computer scheint jedoch einen gewissermaßen zwingenden Verlauf nehmen zu wollen: von Mechanik über die Feinmechanik zur Elektronik bis hin zur Nano-Mechanik, der Quanten-Manipulation und–-Rechnern und weiter darüber hinaus.
Das Faszinierende an der Menschheit ist: Sie ist immer für Überraschungen gut.
P.S. 1: In Teilen erlebbar ist die Idee übrigens im mehrfach prämierten Steampunk-SciFi-Roman „The Difference Engine“ von William Gibson und Bruce Sterling.
P.S. 2: Babbages Prinzip des mechanischen Computers findet heutzutage wieder regen Anklang und hohes Interesse: Forschungslabors für Raumfahrt und Militärbedarf konstruieren mechanische Computer und Schaltkreise auf Basis von Nanotechnologie. Denn diese Nanocomputer sind wesentlich unempfindlicher gegenüber Strahlung und Hitze als herkömmliche Schaltkreise – und sie verbrauchen sogar nur Bruchteile an Betriebs-Energie.